Historische Quellen – unsere täglichen Begleiter
Am und 2. und 3. März 2024 findet in ganz Deutschland der 12. Tag der Archive statt. Ziel ist, Inhalt und Wichtigkeit der archivarischen Tätigkeit einer breiten Öffentlichkeit zu vermitteln. Insbesondere der Gedanke der Sicherung von archivarischen Objekten für die Nachwelt, nicht zuletzt zur Erforschung der Vergangenheit, soll in der Gesellschaft verankert werden. Seit 2006 findet der Tag der Archive alle zwei Jahre unter einem bestimmten Motto statt – in diesem Jahr „Essen und Trinken“.
Die historische Recherche – eine Säule der Kampfmittelvorerkundung
Bei der LBA ist die historische Recherche bei der Vorerkundung auf Kampfmittelbelastung aus dem Zweiten Weltkrieg ein essenzieller Bestandteil der Gutachtenerstellung. Dabei spielen Archive eine nicht unwesentliche Rolle. Bei Aufträgen aus Baden-Württemberg ist das Hauptstaatsarchiv Stuttgart eine gute Adresse, um sich einen ersten Überblick zu verschaffen. Unter der Signatur „Findbuch J 170“ kann man dort Berichte von Gemeinden über die Kriegsereignisse 1945 und das Ausmaß der Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg aus der unmittelbaren Nachkriegszeit finden, häufig verfasst vom Bürgermeister oder dem Pfarrer.
Diese auf Fragebogen beruhenden Berichte liefern oft wichtige Informationen zu lokalen Kriegshandlungen, die in offiziellen NS-Dokumenten nicht erfasst wurden. Die Qualität und Detailliertheit der Berichte variieren je nach Gemeinde. Das kann zum einen daran liegen, dass in dieser Gemeinde einfach wenig passiert ist, oder aber an der Tatsache, dass die Erhebungen für Nordwürttemberg bereits 1948 zusammengetragen worden sind, während die für Südwürttemberg und Baden erst 1960 folgten und dort dementsprechend häufiger „Fehlanzeige“ gemeldet wurde.
Ein selektives Gedächtnis
Gleichzeitig muss man bei der Auswertung dieser Quellen immer bedenken, in welchem Kontext sie verfasst wurden. Viele Bürgermeister waren erst nach der alliierten Besetzung in ihr Amt gekommen und waren bemüht, ihre Gemeinde in einem guten Licht zu präsentieren.
Dabei werden schon mal die damals amtierenden NS-Bürgermeister sowie Angehörige der Wehrmacht oder SS für etwaige Endphaseverbrechen oder mangelnde Verhandlungsbereitschaft mit den anrückenden Besatzungsmächten verantwortlich gemacht. Die Bevölkerung hingegen wird dabei als Geisel des Regimes dargestellt. Lynchjustiz oder andere Verbrechen, die mitunter von Hitlerjugend (HJ), Volkssturm oder einfachen Zivilisten verübt wurden, kommen darin selten vor. Stattdessen finden sich häufig Geschichten, die verdeutlichen sollen, dass die lokale Bevölkerung keineswegs nur auf Parteilinie war, sondern sich auch mal Anordnungen widersetzt hat. So sollen abgestürzte alliierte Bomberbesatzungen – entgegen den Anweisungen – auf dem örtlichen Friedhof bestattet oder französische Zwangsarbeiter wie normale Angestellte behandelt worden sein, was sich dann wiederum bei der Einnahme durch französische Truppen als Vorteil herausstellen sollte.
In anderen Fällen entwaffneten Dorfbewohner Hitlerjungen oder gingen unter Lebensgefahr den alliierten Truppen entgegen, um den Beschuss der eigenen Gemeinde zu verhindern. Das soll nicht heißen, dass diese Situationen frei erfunden sind, im Gegenteil, es gab sehr viele Ereignisse dieser Art. Es soll nur die Selektivität des Gedächtnisses hervorheben. Für die Verfasser gab es zahlreiche Gründe, negative Ereignisse auszulassen.
Man war bemüht, einen Schlussstrich unter den Zweiten Weltkrieg zu ziehen. Gerade in kleinen Gemeinden, wo sich jeder kannte, vermied man es, seine Nachbarn zu beschuldigen, um den sozialen Frieden nicht zu gefährden. Folglich ist bei der Auswertung solcher Materialien darauf zu achten, dass gerade Ereignisse um die alliierte Besetzung nicht immer wörtlich genommen werden können oder ein vollständiges Bild der Geschehnisse ergeben.
Subjektivität und Glaubwürdigkeit
Auch spielt es eine Rolle, wer der Verfasser des Textes war. In Berichten der Pfarrer werden Luftangriffe oft emotional beschrieben, die Kirche als Schutzraum und Ort der Zuflucht ist dabei besonders wichtig. Nicht selten ist von einem Luftangriff während einer Osterprozession zu lesen, bei dem „wie durch Gottes Hand“ niemand zu Schaden gekommen ist. Häufig können sich die Pfarrer den einen oder anderen Seitenhieb gegen den NS-Staat und seinen „Führer“ nicht verkneifen. In den von französischen Truppen besetzten Gemeinden kam es in vielen Fällen zu Gewaltakten gegen die Bevölkerung und Kirchen erwiesen sich gerade für Frauen oft als einer der wenigen sicheren Orte im Dorf. In Gemeinden, in welchen die lokale NS-Führung sich vor der alliierten Einnahme aus dem Staub gemacht hatte und somit ein Machtvakuum hinterließ, übernahmen oft die Pfarrer die Verantwortung für eine geregelte Übergabe des Ortes. Vor allem in den katholisch geprägten Ortschaften erfüllten sie damit eine wichtige Rolle als Verhandler mit französischen Besatzungstruppen, wovon nicht selten das Wohl der lokalen Bevölkerung abhing.
Fragebögen – was ist zu beachten
Der Fragebogen, anhand dessen die Berichte verfasst wurden, bestand zum großen Teil aus Fragen zu militärischen Ereignissen und so war die Qualität der Berichte auch abhängig davon, wie gut der Verfasser sich mit Militärgeschichte, NS-Strukturen, aber auch technischen Aspekten wie Bombentypen auskannte. Manche listeten nur die zerstörten Häuser im Ort auf, während andere die lokalen Geschehnisse in ein Gesamtnarrativ einbetteten und mit Ereignissen in Stalingrad und Pearl Harbor in Verbindung brachten. Pfarrer waren in der Regel nicht sonderlich gut mit militärischen Strukturen und Feinheiten vertraut und so sprechen sie in ihren Berichten auch schon mal von „HJ-Wehrmachtsangehörigen“ oder bezeichnen alle französischen Kolonialtruppen pauschal als „Marokkaner“, was bei der Einnahme Südwestdeutschlands irreführend ist, da sowohl marokkanische als auch algerische Einheiten gleichermaßen involviert waren. In einigen Fällen werden gar französische und amerikanische Truppen verwechselt.
Fragebogen des Württ. Statistischen Landesamtes aus dem Jahr 1948
Ähnlich irreführend können auch Beschreibungen von Luftangriffen sein. Beispielweise wird manchmal von Jagdbomberangriffen 1941 in Süddeutschland gesprochen, was faktisch nicht möglich ist, da zu diesem Zeitpunkt nur britische Bomber so weit ins Landesinnere fliegen konnten und Tieffliegerangriffe erst gegen Ende des Krieges durchgeführt wurden, als die alliierte Lufthoheit gewährleistet war. Allerdings fanden Luftkämpfe statt, die für Tieffliegerbeschuss gehalten werden konnten, vor allem wenn Patronenhülsen auf dem Boden gefunden wurden.
Dies ist ein Beispiel dafür, wie wichtig es ist, Quellen kritisch zu lesen und nicht alle Details wörtlich zu übernehmen. Um ein möglich kohärentes Gesamtbild zu bekommen, müssen zu diesen Berichten weitere Quellen hinzugezogen werden, z. B. Wehrmachtsberichte, Berichte zu Luftangriffen auf deutsche Städte, alliierte Flugaufzeichnungen und sogenannte „After Action Reports“ (militärische Tagesberichte).
Von der Quelle zur belastbaren Aussage
Der eine oder andere mag beim Stichwort „Archivalie“ an etwas Altes und Verstaubtes denken. Unser Beispiel soll das Gegenteil verdeutlichen: Quellen aus Archiven ermöglichen es, dass täglich neue Häuser gebaut, Bahnhöfe, Straßen und Gleisanlagen erweitert, Kanalisationen saniert und Glasfaserkabel verlegt werden können. Gleichzeitig sind Quellen nicht objektiv. Erst die Kontextualisierung einer Quelle verleiht ihr ihren Wert und jede weitere steigert ihn, da sie die Stärken und Mängel der anderen Quellen zum Vorschein bringt. Umso wichtiger ist es für uns bei der LBA, bei der historischen Recherche Distanz zu einer Quelle zu wahren, so überzeugend ihr Narrativ auch klingen mag. Davon kann schon mal abhängen, ob ein Blindgänger übersehen wird oder sogar ein ganzer Ort evakuiert werden muss.